Kurzvortrag im Verlauf des Neujahrsempfangs des SPD-Ortsvereins Wiesbaden-Nord am 19. Januar 2020 im Gemeindesaal der Bergkirchengemeinde
von
Norbert Franz
Meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,
ich bin sehr dankbar dafür, dass ich heute in diesem Kreis über ein Thema sprechen darf, das meine wissenschaftliche und politische Arbeit bestimmt. Schon seit Jahrzehnten stelle ich mir immer wieder die Frage, wie wir für „Soziale Gerechtigkeit“ sorgen können. Deshalb vor allem bin ich Sozialdemokrat. Daher bin ich sehr froh darüber, dass wir uns im Laufe der Debatte über die Neuausrichtung der SPD erneut vergewissert haben, dass das Ringen um Soziale Gerechtigkeit nach wie vor unser zentrales Anliegen ist.
Doch was heißt das heute? Dass der Kampf um erschwinglichen Wohnraum in Wiesbaden auch ein Kampf um Soziale Gerechtigkeit ist, liegt auf der Hand. Aber sind andere Probleme nicht ganz eigene politische Ziele: Der Kampf gegen die Autoflut, die sich täglich durch unsere Stadt wälzt, die zugeparkten Straßen, die verpestete Luft? Und was hat es mit unserem Kampf für mehr Soziale Gerechtigkeit zu tun, wenn sich immer mehr Menschen Sorgen machen über die Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel?
In unserer Debatte über diese Fragen gibt es ernst zu nehmende Stimmen, die sagen: „Wir müssen uns konzentrieren auf unsere Kernkompetenz „Soziale Gerechtigkeit“! Über das Umwelt- und besonders das Klimathema sagen Genossinnen und Genossen, die ich sehr schätze: „Das sind Themen der „Grünen“, im Zweifelsfall wählen die Leute lieber das Original.“ Und überhaupt: „Wir rennen doch nicht den Grünen hinterher.“
Sollen wir uns also auf die Sozialpolitik im engeren Sinn konzentrieren? Sollen wir uns lediglich für die Erweiterung der Leistungen des Sozialstaats einsetzen? Reicht das denn, um Soziale Gerechtigkeit zu schaffen? Haben die anderen Politikfelder, insbesondere Wirtschaft, Sicherheit oder Umwelt, wirklich nichts mit unserem großen Ziel „Soziale Gerechtigkeit“ zu tun? Und sind die Grünen wirklich „das Original“ in der Umweltpolitik?
In der SPD gibt es schon sehr lange die Strömung der Sozialökologen, die Umweltschutz sozial gestalten wollen – ich erinnere nur an den vor kurzem verstorbenen Erhard Eppler. Die Naturfreunde gibt es seit 1895, und am Anfang der Umweltpolitik stand Willy Brandt, der Ende April 1961 in der Bonner Beethovenhalle einen blauen Himmel über dem Ruhrgebiet forderte.
Und erst vor ein paar Monaten hat Jörg Jordan hier in Wiesbaden, im Bürgerhaus Dotzheim bei der Wahlkampfveranstaltung mit Martin Schulz und für unseren Oberbürgermeisterkandidaten Gerd-Uwe Mende den ökologischen Umbau der Landwirtschaft gefordert. Die Sozialdemokratie erhebt diese Forderung auch auf europäischer und auf Bundesebene. Für Soziale Gerechtigkeit und zugleich für den Schutz von Natur und Umwelt zu kämpfen, passt für die Sozialdemokratie sehr wohl zusammen –, schon lange und noch immer.
Aber in der politischen Auseinandersetzung werden diese beiden Ziele häufig gegeneinander und gegen andere wichtige Ziele ausgespielt: Vor allem gegen wirtschaftliche Interessen. Dabei geht es ja immer auch um Arbeitsplätze! Damit wir aus dieser Klemme herausfinden, müssen wir uns erst einmal klar machen, was wir mit „Sozialer Gerechtigkeit“ genau meinen. Darüber haben wir uns vor knapp zwei Jahren in einer Klausurtagung unseres Ortsvereins kundig gemacht. Du, liebe Patricia (1), hast Dich damals intensiv an unserer Debatte beteiligt.
Wir kamen zu dem Ergebnis, dass es nicht genügt, allzu große Unterschiede bei Einkommen und Vermögen zu beseitigen. (2) Wir müssen nicht nur gegen wirtschaftliche, sondern auch gegen soziale Ungleichheit ankämpfen. Menschen sind ungleich – und das ist gut so. Aber soziale Ungleichheit entsteht dort, wo Menschen ihre Lebenschancen nicht entwickeln und nicht verwirklichen können, weil sie einer bestimmten sozialen Gruppe angehören. (3) Soziale Gerechtigkeit ist immer dann erreicht, wenn Soziale Ungleichheit keine Rolle mehr spielt. (4)
Angesichts der großen Unterschiede der Lebenschancen auf der Welt, die zu starken Migrationsbewegungen führen, fordern viele Intellektuelle und Politiker, wie zum Beispiel Julian Nida-Rümelin (5), folgendes: Das große Ziel, prinzipiell gleiche Verwirklichungschancen zu schaffen, soll nicht nur für die Menschen gelten, die in wohlhabenden Ländern leben. Alle Menschen haben dieses Recht. Und Hans Jonas (6) hat schon Ende der 1970er Jahre gezeigt, dass dies auch für die nachfolgenden Generationen gelten muss.
Ja, richtig, das ist eine Utopie. Ja, das ist Theorie! Und es ist eine gute Theorie! Der Sinn einer guten Theorie ist es, Ziele zu formulieren und für eine gute Praxis zu sorgen. Wie also können wir unsere Gesellschaft diesem Ziel ganz real zumindest annähern?
Genau diesen Weg beschreibt eine andere gute Theorie: die Theorie der Nachhaltigen Entwicklung. Sie meint, dass sich Menschen in Wirtschaft, Alltag und Freizeit so verhalten sollten, dass sie ein gutes Leben haben. Zugleich aber sollen sie ihre nichtmenschliche Umwelt so behandeln, dass auch künftige Generationen ein gutes Leben haben können. Anstoß zu dieser politischen und wissenschaftlichen Debatte gab bereits 1987 die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen, die von der Sozialdemokratin Gro Harlem Brundtlandt geleitet wurde. (7) 2015 hat die UNO insgesamt siebzehn Ziele der Nachhaltigen Entwicklung formuliert: Zum Beispiel die Armut beseitigen, für Ernährung, ein gesundes Leben, Wohnen und Bildung aller Menschen sorgen, für die Gleichstellung der Geschlechter, für Arbeit in menschenwürdiger, ressourcenschonender, umweltgerechter Produktion. Fast alle UNO-Staaten haben diese Ziele übernommen, natürlich auch Deutschland. (8)
Maßgeblich ausgestaltet hat die Theorie der Nachhaltigen Entwicklung der Sozialdemokrat Ernst-Ulrich von Weizsäcker in zahlreichen Publikationen. Als guter Theoretiker zeigt er aber auch viele bereits erprobte Wege auf, die wir in der Praxis von Wirtschaft, Alltag, Politik und Verwaltung gehen können. (9) Uwe Schneidewind, Weizsäckers Nachfolger in der Leitung des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, nennt die Wende hin zur Nachhaltigkeit „die große Transformation“. (10) Sie bedeutet, dass wir unsere Wirtschaft und unsere ganze Lebensweise so schnell und so gründlich umbauen, dass wir als Zivilisation bestehen bleiben können. (11)
Nachhaltige Entwicklung, die große Umgestaltung also, ist der Weg, auf dem wir dem großen Ziel Soziale Gerechtigkeit näherkommen. Konkret: In Wiesbaden wird es dann sozial gerecht zugehen, wenn zum Beispiel eine junge Frau, die im Schelmengraben wohnt, die gleichen Chancen hat, ihre Lebenspläne zu verwirklichen, wie ein junger Mann aus einem der Wiesbadener Villenviertel. Global ist Soziale Gerechtigkeit erst dann verwirklicht, wenn auch Bangladesh oder Somalia den langen Weg Nachhaltiger Entwicklung zurückgelegt haben. Das ist das Ziel!
Und wo stehen wir heute in Wiesbaden im Bemühen, durch Nachhaltige Entwicklung eine sozial gerechtere Stadtgesellschaft zu schaffen?
Viele von uns tragen jetzt schon dazu bei, Wiesbaden zu einer nachhaltigen Stadt zu machen. Ich nenne nur einige Beispiele: Da sind jene, die soziale Arbeit machen. Sie bekämpfen soziale Ungleichheit, die vielfach von Armut verursacht wird. Damit fördern sie den unverzichtbaren sozialen Zusammenhalt. Pro Familia trägt dazu bei, dass wir uns dem Entwicklungsziel „Geschlechtergerechtigkeit“ nähern. Lehrerinnen und Lehrer, die sozial benachteiligte Kinder fördern und für eine demokratische Ordnung eintreten, leisten einen wichtigen Beitrag dazu, oder die Polizistinnen und Polizisten, die für unsere Sicherheit sorgen, oder jene, die sich im Kulturpalast Bergkirchenviertel oder hier in der Bergkirchengemeinde engagieren, wo kritische Debatten und Gemeinschaft gepflegt werden, oder jene, die für die Fasanerie arbeiten, wo Stadtmenschen den Kontakt mit Tieren üben können, oder jene, die für die interkulturelle Kindertagesstätte Xenia arbeiten, die sozialen Zusammenhalt bei großer sozialer Vielfalt lebt, oder jene, die sich für den Schulsport engagieren, der für die Gesundheit unserer Kinder so wichtig ist, oder jene, die uns pflegen, wenn wir alt und gebrechlich werden und die zugleich selbst die schlecht bezahlten Opfer des aktuellen Pflegenotstands sind. Und gegen die Wohnungsnot kämpfen Leute wie unser Genosse Hans Vollmar, der sich für genossenschaftliches Bauen und Wohnen einsetzt.
Doch das reicht nicht aus, um hinreichend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Gegen Spekulationsruinen könnte man sicher energischer vorgehen: Denn – auch Immobilieneigentum ist dem Gemeinwohl verpflichtet! Wir könnten den Bodenverbrauch verringern, indem wir möglichst auf bereits versiegelten Flächen bauen. Und die Stadt könnte auf die Landes- und die Bundespolitik einwirken, damit gesetzliche Hindernisse bei der energetischen Sanierung von Altwohnungen abgebaut werden.
Viel mehr müssen wir für die Energiewende tun. Solaranlagen haben heute einen hohen Wirkungsgrad und sind sehr billig. In Wiesbaden sehe ich nur wenige Dächer, auf denen solche Anlagen installiert sind. Und wir sollten uns auch mit neuen innovativen Technologien beschäftigen. Die Wasserstoffträgertechnik, die Peter Wasserscheid und Wolfgang Arlt an der Universität Erlangen entwickelt haben, kann überschüssigen Solar- und Windstrom speichern und Kraftfahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Eisenbahnzüge antreiben – ohne die Risiken und mit geringeren Kosten, als die bisher bekannten Wasserstofftechnologien. Diese Technologie könnten wir beim Umbau des öffentlichen Personennahverkehrs einsetzen. Reine Elektromotoren sind hier nicht die beste Lösung. Öffentliche Räume in der Stadt für das Parken zu nutzen, sollte grundsätzlich teuer sein. Als sozialpolitischen Ausgleich müssen wir den öffentlichen Personennahverkehr noch dichter und billiger machen. Wichtig ist aber auch, dass die Citybahn schnell kommt und mit den Mainzer Straßenbahnen verbunden wird.
Aber gerade in der Debatte pro und contra Citybahn stoßen wir auf ein ethisches Problem. So wenden seriöse Leute, die meine Nachbarn sind, gegen die Citybahn ein, dass dieses Projekt nur dazu diene, Politikern die Taschen zu füllen. Wir wissen, dass das nicht stimmt. Aber angesichts der Debatte um den Wiesbadener Filz sehen wir einmal mehr, wie schädlich jegliche Form von Korruption für die Nachhaltige Entwicklung unseres Gemeinwesens ist. Aber hier ist in letzter Zeit Besserung in Sicht. (12)
Nur – wie können wir überhaupt feststellen, was wir auf dem Weg dieser Großen Transformation zu einer nachhaltigen Stadt bereits erreicht haben? Und wie finden wir heraus, wo wir uns noch mehr anstrengen müssen? Es wäre sehr hilfreich, wenn die Stadtverwaltung über diese Fortschritte statistische Daten veröffentlichen würde, und zwar sortiert nach den siebzehn Zielen nachhaltiger Entwicklung der UNO. (13) Auch wenn bereits vieles geschieht und erreicht ist – noch viel mehr müssen wir ganz schnell anpacken.
Meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,
in der Debatte um Soziale Gerechtigkeit und Nachhaltige Entwicklung hört man immer wieder den Einwand, „wir können in Wiesbaden nicht die Welt retten“. Das ist richtig. Das wäre aber auch das falsche Ziel. Es geht nicht darum, die Welt oder auch nur das Klima zu retten. Diese Erde wird es noch einige Milliarden Jahre geben und sie wird irgendein Klima haben. In Wirklichkeit geht es darum, das nötige zu tun, damit wir als Zivilisation von bald zehn Milliarden Menschen auf dieser Welt weiter existieren – in einer Umwelt, die wir ertragen können. Wir können das schaffen und dabei eine gerechtere Gesellschaft bauen, indem wir die Wege Nachhaltiger Entwicklung zügig weiter gehen, jeden Tag, auch in Wiesbaden.
1 Dr. Patricia Eck, damals Kandidatin für den Hessischen Landtag, aktuell Vorsitzende des Unterbezirks Wiesbaden der SPD.
2 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014 (Originalausgabe: Le capital au XXIe siècles, Paris 2013) Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014 (Originalausgabe: Le capital au XXIe siècles, Paris 2013).
3 Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2017.
4 Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011; ders., Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, 3. Aufl. Berlin 2016 (Erstauflage 2015).
5Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Hamburg 2017.
6 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Suhrkamp Taschenbuch, Bd. 1085), Frankfurt am Main 1985 (Erstauflage Frankfurt am Main 1979).
7 Sie legte 1987 ihren Bericht über „Unsere gemeinsame Zukunft“ vor, der „Nachhaltige Entwicklung“ im eben skizzierten Sinne definierte. World Commission on Environment and Development: Our Common Future, Oxford 1987, http://www.un-documents.net/wced-ocf.htm.
8 https://www.destatis.de/DE/ Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Deutsche- Nachhaltigkeit/_inhalt.html.
9 Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman e.a., Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen, Gütersloh 2017; die Wirtschaft soll nicht mehr dominieren, sondern wieder zum Hilfsmittel werden, das ein gutes Leben ermöglicht, vgl. Uwe Schneidewind, Angelika Zahrnt, Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik, 3. Auflage München 2017 (Originalausgabe 2013).
10 Uwe Schneidewind, Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt am Main 2018.
11 Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman e.a., Wir sind dran; die Wirtschaft soll nicht mehr dominieren, sondern wieder zum Hilfsmittel werden, das ein gutes Leben ermöglicht, vgl. Uwe Schneidewind, Angelika Zahrnt, Damit gutes Leben einfacher wird.
12 So stellte Eric Uwe Laufenberg, der Intendant des Hessischen Staatstheaters, kürzlich fest, dass die Luft in Wiesbaden inzwischen bereinigt scheine. „Wann wird Klüngel strafbar“, in: Wiesbadener Kurier, 11. Januar 2020, S. 15.
13 Die Bundesregierung tut dies bereits, vgl. https://www.destatis.de/DE/ Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Deutsche-Nachhaltigkeit/_inhalt.html.
[Es gilt das gesprochene Wort]